Ein Interview mit Oliver Stemmann
Wir stellen Dir auf unserem Blog Menschen vor, die sich freiwillig engagieren. Sie erzählen Dir von ihren schönsten Erlebnissen ihres ehrenamtlichen Engagements, geben Tipps, wie Du Dich selbst engagieren kannst, und beschreiben ihre Motivation.
Den Anfang macht für Dich Oliver Stemmann, der seine Freitage im Kältebus der Berliner Stadtmission verbringt.
Die Berliner Stadtmission ist ein evangelisches Hilfswerk für jedermann, 42 diakonischen Einrichtungen für Senioren, Menschen mit Behinderungen und obdachlose Menschen und 10 Gästehäusern/Hotels. Die Arbeit der rund 750 hauptamtlichen Mitarbeiter wird dabei von ca. 1.000 Ehrenamtlichen unterstützt. Oliver ist einer dieser ehrenamtlichen Helfer.
Der Kältebus der Berliner Stadtmission startete vor über 20 Jahren. Anlass war der Erfrierungstod eines Obdachlosen 1994 in Berlin. Er hatte keine Kraft mehr, selbst einen warmen Unterschlupf aufzusuchen. Die Mitarbeiter in der City-Station, einem Restaurant mit Beratung und Seelsorge, waren über den Tod sehr bestürzt und suchten nach einer sofortigen Hilfemaßnahme. Ein zweiter Kältetoter sollte unbedingt verhindert werden. Gleich in der nächsten Nacht startete ein VW-Bus. Der Kältebus war geboren. Seither ist der Kältebus jeden Winter unterwegs - auf der Suche nach hilflosen Obdachlosen. Viele Obdachlose verdanken ihm ihr Überleben.
Hallo, ich bin Oliver Stemmann, 57 Jahre jung, verheiratet und im Management eines großen privaten Betreibers von Altenheimen und Pflegeeinrichtungen für Grundsatzfragen im Pflegemarkt tätig.
Seit sechs Jahren engagiere ich mich ehrenamtlich im Bereich der Kältehilfe im Land Berlin, bei der Berliner Stadtmission, einem großen evangelischen Träger. An 10-12 Freitagen pro Jahr fahre ich den Kältebus.
Auf Grund meiner hauptberuflichen Tätigkeit kann ich immer nur freitags fahren, da ich unter der Woche nicht nachts arbeiten kann. Der Kältebus fährt täglich vom 1. November bis 31. März von 21 Uhr bis 3 Uhr morgens seine Runde.
Zusätzlich bin ich jeden Montag, sofern es mein Terminkalender erlaubt, im Nachtcafé City-Station in der Joachim-Friedrich-Straße. Untertags ist es eine Tagesstätte, nachts werden 20-25 Betten für wohnungslose Menschen aufgestellt. Sie bekommen vor Ort etwas zu essen, zu erinken, können ihre Wäsche waschen und duschen. Es ist eine von vielen Notübernachtungen, die im Winter eingerichtet werden und wohnungslose Menschen vor der Kälte schützen sollen.
Ein Arbeitskollege von mir, der selbst Fahrer des Kältebusses war, sprach mich an und meinte: „Herr Stemmann, gucken Sie sich das an, das könnte etwas für Sie sein.“ Er lud mich zu einer Probefahrt ein und seitdem fahre ich mit.
Im Kältebus fahren immer zwei Personen mit. Der Fahrer und der Beifahrer. Der Beifahrer hat den Telefondienst und übernimmt den Großteil der Kommunikation. Er hat aber auch die Aufgabe, die Umgebung zu scannen und zu schauen, ob jemand Hilfe benötigt. Eine sehr anspruchsvolle Aufgabe. Als potentieller Freiwilliger fährt man als dritte Person mit. Ich habe damals gleich richtig mit angepackt.
Es war einfach unfassbar beeindruckend für mich. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass wir einen wohnungslosen Gast mitnahmen, der eigentlich in einem Sparkassenfoyer lebte, und ihn, mit seinem gesamten Hausstand, den er in einem Einkaufswagen hatte, in eine Unterkunft brachten. Die Lehrter Straße ist besonders, denn sie macht nie zu. Falls alle Betten belegt sind, machen sie ihre Versammlungsräume auf und bieten Menschen zumindest einen warmen Platz an, wenn auch kein Bett. Es stimmt einen schon sehr nachdenklich, wenn man dort um drei Uhr früh reinkommt und sieht, wie Menschen auf Bänken und auf dem Boden liegen, nur um nicht nachts draußen in der Kälte schlafen zu müssen, vor allem wenn Du selbst eine schöne Frau und ein warmes Bett daheim hast, die auf Dich warten.
"Das ist der Moment im dem Du weißt, Du musst etwas machen".
Ich mache in meiner Freizeit auch viele schöne Sachen. Ich gehe in die Oper oder in die Philharmonie, aber manchmal, da muss ich einfach etwas zurückgeben.
Nach dieser ersten Nacht, wollte ich mich sofort für den Kältebus anmelden, aber alle meinten, das ginge erst im nächsten Jahr. Doch im Januar rief mich ein junger Diakon – Felix – an und meinte, er habe gehört, ich wolle mich engagieren. Er erzählte mir vom Nachtcafé City Station und ich war dabei. Zunächst im Nachtcafé, dann auch als Beifahrer im Kältebus – in dem ich beim Telefondienst viel lernen durfte – und nun, seit vier Jahren, auch als Fahrer.
Es gibt nichts Schöneres als mit dem Kältebus raus in die Nacht zu fahren und Leuten zu helfen. Es gibt auf der Internetseite der Stadtmission einen kleinen Film – der erklärt die Motivation sehr gut. Das Team des Kältebusses hat eine sehr hohe personelle Kontinuität. Wer das einmal macht, der bleibt dabei.
Ich arbeite im Bereich der Altenpflege. Franz Müntefering sagte einmal: „Seid aktiv und engagiert Euch. Knüpft soziale Kontakte, bevor Ihr alt seid.“ Damit hat er recht. Es ist wichtig und gibt einem viel zurück.
Am besten, man überlegt sich: Was ist meines, was kann ich machen? Es gibt so viel Auswahl: Suppenküchen, die Berliner Tafel oder ehrenamtlicher Hospizdienst – eine sehr, sehr schwierige Arbeit. Ich habe das selbst einige Zeit hauptberuflich organisiert. Man sollte sich das schon genau überlegen.
Wenn man sich überlegt hat, was man gerne machen möchte, fragt man sich durch, wo dieses Ehrenamt angeboten wird. Überlegen, was möchte ich gerne machen, was kann ich machen, und dann einfach hingehen.
Es muss aber nicht immer ehrenamtliches Engagement sein, es ist auch eine große Hilfe, wenn man Organisationen oder Projekte mit Spenden unterstützt.
"Ich habe mich auch auf goood.de umgeschaut. Bei den Projekten finden sich unglaublich viele unterschiedliche Organisationen, da findet man sicherlich ein Projekt, das man unterstützen möchte."
Man glaubt es gar nicht, aber für uns in der Kältehilfe sind zum Beispiel Unterhosen ein großes Thema, oder warme Decken, Isomatten, Socken, Schlafsäcke und alte Mäntel. Es macht wirklich für die Menschen einen Unterschied.
Das kann ich so gar nicht sagen. Aber es ist schön zu sehen, wie die Umwelt anfängt mitzudenken. Meine Nachbarin hat eine Freundin, die strickt für uns zum Beispiel Pulswärmer. Es ist schwer vorzustellen, wie sehr sich unsere Damen freuen, wenn Sie zu Weihnachten Pulswärmer verpackt bekommen.
Oft sind es die kleinen Dinge. Letzten Montag zum Beispiel wurde ein Mann um die fünfzig zu uns ins Nachtcafé gebracht. Ich kannte ihn. Er war schon einige Wochen zuvor da. Komplett betrunken. Damals ging er noch selbst. Dieses Mal war er wieder betrunken, aber saß im Rollstuhl. Es ist schlimm zu sehen wie schnell Menschen abbauen können. Er musste dringend auf die Toilette, also haben ich und ein Kollege ihn zur Behinderten-Toilette geführt und ihm geholfen aufzukommen. So konnte er einfach menschenwürdig zur Toilette gehen. Er konnte sich ja kaum mehr bewegen. Hätten wir ihm nicht geholfen, hätte er sitzen bleiben müssen.
Das ist zwar sehr banal, aber für ihn war es wichtig. Man darf nie vergessen, jeder Mensch besitzt eine Würde und empfindet Scham, auch wenn es ihm nicht gut geht.
"Mir ist es wichtig, den Menschen zu ermöglichen, ihre Würde zu behalten."
Man bekommt bei dieser Arbeit so viel positives Feedback, man bekommt so viel Positives zurück. Das eigene Verständnis und Verhältnis wandelt sich. Man sieht die Menschen anders, sowohl die Wohnungslosen, als auch andere Beteiligte wie z.B. Polizisten. Man hat plötzlich ein Verhältnis zu Leuten, bei denen man es nie erwartet hätte.
Ein Interview von Anna-Ramskogler-Witt (Januar 2017)
Bei goood kannst Du die Berliner Stadtmission mit ihrem Hilfsprojekt für Wohnungslose ab sofort unterstützen.
Hier erfährst Du mehr über dieses Projekt: HILFE FÜR WOHNUNGSLOSE – Ein Projekt der Berliner Stadtmission.